Ich steige aus dem Zug aus. Es gibt noch ein paar Südkoreanische Touristen, sonst nur Russinnen und Russen. Mir sieht keiner an, dass ich nicht von hier bin. Eine Südkoreanerin fragt mich nach dem Weg. Als ich ihr nicht antworten kann, zückt sie ihr Smartphone, fotografiert den Bus und steigt wenig später ein.
Der Fluss Angar am Dampfen.
Die Übersetzung und alle Informationen auf dem Bildschirm. Wie einfach könnte es doch sein. Ich indessen laufe einfach mal. Ich weiss, dass ich Richtung Osten muss, komme über die Brücke, die den Fluss Angar überquert und weiss warum ich laufe.
Schon auf der Brücke wurde ich ein Fan von Irkutsk und das obwohl ich gerade mal 30 Stunden dort war.
Der Fluss raucht. In der Mitte hält sich wacker ein Fischer. Es ist kalt, aber überwältigend schön. Ich bleibe einfach stehen und geniesse das Spektakel zusammen mit der untergehenden Sonne.
Und das ganze von noch etwas Näher.
Danach gehe ich automatisch schneller. Meine Regenjacke ist schon steif, da gefroren. Die Worte der Frauen aus dem Zug hallen in meinem Kopf nach, damit wirst du nicht überleben. Innerlich lache ich, geniesse und leide zugleich. Wobei sich die Balance langsam von Geniessen in Richtung Leiden verschiebt, denn es ist kalt und ich weiss nur, dass es ein Hostel an der Leninstrasse gibt, die – wie ich herausfinde – einmal quer durch die ganze Stadt geht.
Eine Kirche, die ich passiere.
Ich laufe also einfach auf gut Glück und verfluche mich manchmal dafür. Der Rucksack hält meinen Rücken warm, die zwei paar Hosen tun ihren Dienst. Ich danke Kristina für ihre Handschuhe, nur das Atmen ist so schwer. Aber ich kann mir kein Tuch vor den Mund halten, denn dann ist automatisch meine Brille beschlagen. Langsam kriecht leise Panik in mir hoch. Um vier Uhr beginnt der deutsche Stammtisch im Restaurant Baikal Love. Dort wollte ich hin und ich habe keine Ahnung, wo dieses Restaurant ist.
Eines der wunderschönen Holzhäuser, das einzige, das ich fotografiert habe, denn bei der Kälte ist jedes Foto eine Überwindung.
Du wirst es schon finden, haben die zwei auf Wanderschaft gesagt und tatsächlich. Plötzlich stehe ich einfach davor. Eine bunt gemischte Runde aus Muttersprachlern und Einheimischen sitzt zusammen. Das Essen ist herrlich und es ist warm. Langsam taue ich auf, komme in Fahrt und erfahre, dass es ein schönes Hostel gerade beim Baikalsee gibt. In Listvjanka. Ich versuche noch den Bus dorthin zu erwischen, treffe auf der suche auf eine alte Frau namens Galina und verpasse den letzten Bus um gut eine Stunde, denn er war bereits vor 18 Uhr gefahren.
Ein Holzhaus im Bau.
Also besuche ich Galina, die mir ihre Adresse gegeben hatte. Ihr Sohn bringt mich später ins Hostel, wo wir – der einzige andere Gast, die Hotelangestellte und ich – eine Kneipentour starten. Diese macht allerdings einen groben Strich durch meine Rechnung, am nächsten Tag früh aufzustehen und zum Baikalsee zu fahren. Als ich aus dem Bett krieche ist nämlich schon 10 Uhr. Ich ziehe alles an, was ich anziehen kann und mache mich auf den Weg zum Bus. Mitten drin drehe ich jedoch auf dem Absatz um.
Und ein Eispalast im Entstehen.
Ich entscheide einfach hier zu bleiben. Irkutsk ist interessant, ich habe noch genau bis 4 Uhr morgens Zeit hier und sollte keine Angst haben irgendeine Sehenswürdigkeit zu verpassen, denn bisher war ich sowieso nur davon enttäuscht worden. Also stürze ich mich befreit und entsprechend glücklich ins Stadtgetümmel, kaufe mir draussen auf dem Markt Handschuhe, dieselben Socken, welche die Verkäuferin auch trägt und einen Schal und merke wie sich mit der Zeit meine Zunge wie verbrannt anfühlt, denn heute ist noch kälter als gestern. Zwei Stunden scheinen das oberste Limit zu sein, um draussen herum zu laufen.
Die Hintertür anschauen.
Als Ungläubige schleiche ich in mehrere Kirchen hinein. Dort ist warm und es riecht gut. Jedes Mal zünde ich eine frische Bienenwachskerze an, erfreue mich ab der Heiligkeit des Orts und fühle mich gleichzeitig wie eine Diebin, die sich hinein stiehlt.
Durch den Zaun hindurch gespäht.
Draussen bauen sie ganze Paläste aus Eis auf, beziehungsweise sie beginnen gerade damit. Ich gehe Richtung Fluss, während die Sonne dem Horizont entlang schleicht. Aber ich möchte nochmals sehen, wie der Nebel aus dem Fluss kriecht und das tu ich im Norden der Stadt. Das Wasser ist hier in allen drei Formen sichtbar.
Die Brücke am Fluss.
Meine Lunge schmerzt, doch das ist es wert, die Kälte macht das ganze Erlebnis bloss intensiver. Dennoch all die Autos, die an mir vorbei rauschen, helfen nicht auf dem Rückweg, also begebe ich mich in Seitengassen, um dem zu entkommen. Ich beobachte Eisblumen an den Fenstern der alten Holzgebäude.
Der Blick von der Brücke in Richtung des Mahnfeuers.
Ich wundere und bewundere, bis ich einen alten Mann sehe. Im ersten Augenblick scheint alles normal, Passanten ziehen vorbei, doch beim zweiten Hinschauen, erkenne ich die Schieflage. Er ist zwischen seinem Stock und einer Hauswand und bewegt sich nicht. Wenn ich sein Gesicht richtig lese, dann ist leise Panik zu sehen. Ich bot ihm meinen Arm an. Er versteht nicht, spricht undeutlich. Ich hake nach, dann warte ich einfach ab. Bis er mir seine Stofftasche gibt. Dort drin sind instant noodles. Danach gibt er mir zu verstehen, dass ich mich neben ihn stellen soll. Er nimmt meinen Arm. Da merke ich dass er wie Espenlaub zittert, dass seine Jacke noch dünner ist als meine. In Tippelschritten geht es voran. Ich darf auf keinen Fall das Gleichgewicht auf dem eisigen Boden verlieren und er atmet jetzt schon schwer. Was wenn er mitten drin umkippt und stirbt? Wenn ich da jemandem etwas erklären sollte? Frage ich mich unweigerlich, scheuche den Gedanken aber brutal zur Seite und konzentriere mich einzig und allein genau das Tempo zu halten, welches der Mann möchte. Ich biege dort, ab wo er mich hinlenkt, einzig und alleine darauf konzentriert. Das hilft mir auch auszublenden, dass der Mann eher verwahrlost aussieht und seine Nase wie ein Wasserhahn tropft. Das ist gut so, denn normaler Weise habe ich tatsächlich grosse Mühe über solche Oberflächlichkeiten hinweg zu sehen. Mit der Zeit lässt das Zittern etwas nach. Uns kreuzt eine Frau. Sie sagt ein Wort und dann djevoschka (Mädchen), womit zweifellos ich gemeint bin und ich glaube es war etwas sehr Nettes, denn sie war eine der wenigen Russinen, die mich gleich angelächelt haben, doch ich weiss es nicht. Sonst erscheinen die meisten im ersten Moment eher strikt. Besonders draussen auf der Strasse. Ich gehe mit dem Mann bis zu einer Metalltür, die ich für ihn öffne. Er möchte eindeutig nicht, dass ich hineinkomme, noch möchte er, dass ich hinein schaue. Das respektiere ich und lasse ihn. Er sagt zweimal “spasiba” (danke) und ich weiss, dass ich das richtige getan habe.
Alle drei Formen von Wasser.
Beflügelt von der guten Tat, irre ich durch die Stadt und komme so viel zu weit vom Hostel weg. Aber wenigstens finde ich gefrorenen Sanddorn mit dem ich im Zug dann Tee machen kann und kaufen noch Proviant ein. Dennoch habe ich als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder im Baikal Love sitze das Gefühl, dass ich mir Atemwege und Lunge erfroren habe. Die Schmerzen sollten auch noch die nächsten vier Tage anhalten, ehe es wieder besser wurde.
Langsam kriecht der Nebel vom Fluss hoch…
Seis drum, eine heisse Suppe, ein Tee und ein paar Omletten später fühle ich mich wieder lebendig. Im Baikaler Hostel ist heute niemand mehr. Nicht mal Jeva, aber ich denke sie hat noch den schlimmeren Kater als ich gehabt und wurde am Morgen danach ziemlich vom Hostelmanager zusammen gestaucht.
…und eine Kirche schält sich aus dem Dunst.
Ich verkrieche mich also direkt in meine Bett, denn ich muss mitten in der Nacht aufstehen, um den Zug nach Moskau zu erwischen. Denn eigentlich dachte ich, dass ich für 23:30 Uhr gebucht hatte, doch habe ich schnell herausgefunden, dass dies Moskauer Zeit ist. Ein Fehler der einem nur einmal passiert.
Und hier die Kirche inklusive Kamerateam beim oberen Eingang.