Als Kind habe ich Bücher über Urvölker verschlungen. Sowohl Romane als auch Sachbücher. Zusammen mit meinem Freund Dorian, träumte ich davon die Papua Neuguinea zu besuchen, ich las über Mangrovenwälder, ohne jemals ein Fotos zu sehen. Nun begegnete ich auf meiner Velotour unverhofft dieser Vorstellung als ich durch die Jahreszeit gezwungen von Kyoto nach Süden und nicht nach Norden paddelte, wie ich es normaler Weise tun würde.
Mit dem Schiff lassen sich zumindest alle Inseln bis Okinawa erreichen. Ishigaki (mein eigentliches Ziel) disqualifizierte sich leider selber, denn diese Insel ist tatsächlich nur noch per Flugzeug erreichbar. Ich liess also den Zufall entscheiden wohin ich stattdessen gehen würde, denn obwohl Okinawa sehr schön war, besonders der Teil wo meine Freunde aus Tokyo und ihre Familie dazu kamen, so fand ich den Süden mit all den Militäranlagen schon eher bedrückend. Auch spürte man die Skepsis gewisser Leute Westlern gegenüber. Natürlich wurde es nie ausgesprochen, aber es fühlt sich einfach anders an.
Mita, eine wirklich coole Frau, die ich in Motobu getroffen habe, empfahl mir Amami und ganz speziell das Sangobeach (Sangobiichi ausgesprochen) Guesthouse. Da war sie also gefallen, die Entscheidung. Immer gut wenn einem das irgendwie abgenommen wird, besonders weil Yana und Shori mir die Insel auch schon wärmstens empfohlen hatten. Seis drum, so fallen bei mir meist Entscheidungen und ich sollte es keinen Moment bereuen, oder fast keinen.
Ich erreichte die Insel spät Abends mit der Fähre. Naze, die Stadt im Norden war ruhig, ein lauer Wind wehte. Da war noch eine Weihnachts(oder Neujahrs-) Beleuchtung. Ich erreichte das Hostel und erhielt ein Einzelzimmer. Ein unglaublicher Luxus für mich nach all den kalten Nächten im Zelt und den vielen Hostels.
Am nächsten Morgen machte ich mich auf die Inselrundfahrt. Bis ich nach ca. 20 Kilometern ein neues Geräusch von meinem Fahrrad vernahm. Das hatte mir Jonas vor vielen Jahren beigebracht, hör immer auf dein Fahrrad und ein neues Geräusch ist ein sehr schlechtes Zeichen. Damals hatte er das erwähnt als uns die erste Speiche brach. Später wurde dies zu einem vertrauten Geräusch, denn eine nach der anderen begann zu brechen. Ich fuhr noch einige Meter weiter, beobachtete und bemerkte, dass meine linke Satteltasche vorne sehr schräg hing. Der Gepäckträger war zur Hälfte abgebrochen. Schraube verloren dachte ich. Kurzes Nachforschen ergab allerdings, dass sie nicht verloren, sondern abgebrochen war. Die Spitze noch schön in der Gabel des Fahrrads festgewunden, unmöglich für mich die irgendwie raus zu bekommen.
«Nein!» fluchte ich einen meiner schlimmsten Flüche und dann kam auch schon eine Frau, die mir anbot mein Gepäck bei ihr zu lagern. Dankend lehnte ich ab, aber ihre Hilfsbereitschaft liess mich optimistisch bleiben. Ich beschloss also mit der einen Satteltasche auf dem Rücken weiter zu fahren. Die verbleibende Runde um die Insel waren noch ca. 100 Kilometer. Das würde ich schon irgendwie schaffen, dachte mein Kopf. Nacken und Schulter ächzten allerdings schon. “Grossartig, Mariane und ihr Dickschädel und wir müssen es mal wieder ausbaden.”
Stattdessen ging ich erneut in den Mangroven Kajak fahren. Der eine Guide freute sich sehr sein Englisch zu praktizieren und wir unterhielten uns wunderbar, leider reichte sein Wortschatz nicht aus, um mir die Details, die sie über die Mangroven berichteten zu übersetzen, aber stattdessen erzählte ich ihm irgendwann von meinem Velo. Kurzum, sie sendeten mich nach der Kajakfahrt Mitagessen und als ich zurück kam war die Schraubenspitze draussen und eine neue drin. Er hatte sie mit einem kleinen Bohrer zerstört. Zum Glück habe ich nicht daneben gestanden und mit Sorgen um mein Velo gemacht, sondern probierte stattdessen Keihan, eine lokale Spezialität, wo man Reis und eine Suppe bekommt und einige Beilagen und diese Bestandteile dann selber zusammen mischt und isst.
Schon faszinierend in Japan, ich stürze mich wirklich auf fast alles, was ich bezüglich Essen nicht kenne und es gibt noch immer so viele neue Sachen zu entdecken. Ich weiss nicht, ob man davon jemals gesättigt werden kann.
Seis drum, frohen Mutes fuhr ich weiter zum Yadori Beach. Einer der schönsten Strände, die ich je gesehen habe und ich genau zum Sonnenuntergang erreichte. Dafür musste ich allerdings noch ziemlich kräftig in die Pedalen treten weil ich doch mit der Veloreparatur einiges an Zeit eingebüsst hatte. Aber ich wollte auf jeden Fall vor Sonnenuntergang mein Zelt aufgebaut haben, denn ich wurde vor Habu, einer ziemlich giftigen Schlange gewarnt, die nachtaktiv ist. Allerdings im Winter zum Glück weniger aktiv. Wurde ich beruhigt. Dummer Weise hatte ich eine frisch überfahrene Habu auf der Strasse liegen sehen. Ich wollte es also sicher nicht darauf ankommen lassen. Der neue Bär war geboren. Braucht es wirklich immer etwas um davor Angst zu haben? Ich musste lachen bei dem Gedanken.
Es war ein gratis Campingplatz, zwei weitere Personen waren dort. Später erfuhr ich, dass sie zu den Japanischen Selbstverteidigungskräften gehörten. Das ist eine Armee, die einfach nur aus Selbstverteidigung ausgerichtet ist. Die zwei waren sehr sympathisch, sprachen allerdings nur Japanisch (wie alle im Folgenden erwähnten Personen auf der Insel). Wir sprachen lange, sie waren betrunken, ich trank aber selber zur Sicherheit nichts, als es mir angeboten wurde. Sie nickten verständnisvoll. Natürlich nicht, du machst ja Sport.
Ein ganz spannender Punkt war, als der eine von der Ukraine zu berichten begann und sagte wie schade das ist und dass es so viel weniger Leid auf dieser Welt gäbe, wenn die Staaten statt das Geld in Raketen zu investieren, es in die Ernährung der Bevölkerung stecken würde. Das von eine Soldaten zu hören halte ich für ein gutes Zeichen.
Später lag ich in meinem Zelt. Ich hörte die Geräusche des Dschungels um mich herum. Laute, die ich noch nie in meinem Leben gehört hatte. Ich war mitten drin im Zelt fühlt es sich an, als wäre es direkt neben mir, fast als würde ich dazu gehören und irgendwie halfen mit die Geschichten, die natürlich vollkommen romantisiert waren, aus meiner Kindheit, dass sich das ganze irgendwie vertraut und sicher anfühlte. Dennoch war ich froh, dass es noch zwei andere Menschen dort gab. Später begann der Regen gegen mein Zelt zu hämmern. Mein Zelt, das inzwischen leider nicht mehr ganz wasserdicht ist. Aber es war überlebbar.
Am nächsten Morgen wartete ich bis der schlimmste Regen vorbei war, obwohl ich einen sehr langen Tag vor mir hatte, denn entlang der Westküste schien es nicht wirklich ein Hotel zu geben, das in meiner Preisklasse lag. Allerdings ist nicht nur mein Zelt nicht mehr Wasserdicht, sondern auch meine Regenjacke war wahrscheinlich bis vor ca. 15 Jahren wasserdicht und ist es seither nicht mehr. Meine Regenhose war es nie. An diesem Morgen begegnete mir allerdings ein weiteres Phänomen von Japan, das mir des Öfteren passiert ist. Hatte ich mich am Vorabend noch angeregt mit den beiden Soldaten unterhalten, so herrschte am Morgen danach das grosse Schweigen. Ich frage mich ernsthaft, ob viele Männer hier einfach nicht gelernt haben sich ganz normal mit Frauen zu unterhalten.
Ich schwang mich also auf mein Velo und fuhr voller Elan los. Obwohl der Himmel nicht vollkommen blau war, so waren die Farben des Wassers schön. Ich machte einen Mittagshalt in Setouchi und beschloss dann wirklich bis nach Sangobeach zu fahren. Ich machte meine Reservation. Nun es galt es Ernst. Der Osten der Insel hatte viele Tunnels gehabt, im Westen waren diese rar. Ich hatte also 75 km mit 4000 Höhenmetern den Berg hoch vor mir. Der Kampf gegen die Schwerkraft begann.
Ein Aufstieg wollte und wollte nicht enden. Die Strasse wurde auch immer schmaler und es begann zu regnen. Zudem wurde es später und später. Aber die Stimmung war unglaublich. Es war wie ich es mir als Kind in den Büchern vorgestellt hatte. Durch den Regen begannen die Blätter der wundersamen Pflanzen um mich zu schillern. Überall her kamen unbekannte Geräusche. Ich war irgendwo zwischen vollkommener Faszination und einer gewissen Angst im Nacken, dass ich es nicht schaffen würde. Zwischendurch hätte ich mich am liebsten neben dem Strassenrand auf den Boden geworfen und geweint, wenn es so steil war, dass meine Muskeln zu berennen und schmerzen begannen und der Aufstieg dennoch nicht enden wollte. Aber es war keine Option. Dennoch fragte ich mich natürlich warum ich die körperlichen Grenzen immer so weit ausloten muss und ich glaube ich weiss warum: Erstens damit mein Kopf endlich mal aufhört zu denken. Dann ist da nur die Anstrengung nichts anderes. Zweitens Mache ich mir tatsächlich oft Gedanken ob etwas möglich ist und nicht im Detail wie und weil ich es immer wieder irgendwie schaffe, versuche ich es auch oft ohne mir davor gross Sorgen zu machen. Im Moment selber zerbreche ich mir dann doch oft den Kopf, wie ihr das hier vielleicht schon mitbekommen habt.
Seis drum, es war einfach intensiv und wunderschön. Wie ein Kindheitstraum der wahr geworden ist. Ich fragte mich auch nicht wirklich, ob dies nun meiner Vorstellung entsprach, die ich damals hatte (die Mangroven hatte ich mir zum Beispiel viel grösser vorgestellt). Es war nur eine Vorstellung, darum muss ich die auch nicht vergleichen.
Dennoch ein Rennen gegen die Zeit. Ich strampelte so schnell ich konnte fernab der Zivilisation, mitten in den Hügeln irgendwo im Dschungel. Die Motivation fürs strampeln war einfach, ich wollte keiner Habu in der Dunkelheit begegnen und musste Wärme generieren. Der Wald wurde lauter, es begann mehr und mehr zu regnen, sodass ich nach kürzester Zeit vollkommen durchnässt war. Nebelschwaden zogen auf. Meine Brille war beschlagen. Warum hatte ich bloss keine Linsen verwendet? Aber nun war es zu spät, keine Zeit und Wärme für Fotos oder Linsen, ich musste einfach so weit wie möglich kommen bevor die Dunkelheit herein brach. Ich verfuhr mich mehrfach, denn es regnete zu fest um das Telefon heraus zu holen und der Kompass alleine reichte hier tatsächlich nicht aus. Es gab zu viele Berge und Täler und Strassen, die nicht bezeichnet waren. Aber die Dämmerung kam unaufhaltsam, liess sich allerdings nur daran erkennen, dass es immer weniger Licht gab. Die dunklen Wolken und der Regen erlaubten keine Fernsicht. “Regenwald” halt, dachte ich mir. Ich erreichte endlich den höchsten Punkt, aber gleichzeitig kam sie unweigerlich, die Nacht. Jetzt weiss ich warum es fantastisch ist Reflektoren am Strassenrand zu haben, denn zwischenzeitlich sah ich rein gar nichts, obwohl mein Licht am Velo ausgezeichnet ist, doch gleichzeitig zur Dunkelheit kamen auch Nebelschaden auf, die das Licht in alle Richtungen zerstreuten und dadurch die Sichtweite auf ungefähr einen Meter reduzierten. Meine Brille hatte zudem grosse Regentropfen gesammelt. Immer wieder trocknete ich sie, aber wenige Sekunden später war die Sicht wieder eingeschränkt. Zum Glück gab es kein einziges anderes Fahrzeug. Das ist natürlich blöder wenn man von einer Schlange gebissen wird und niemand weiss wo man ist. Aber daran dachte ich gar nicht mehr. Ich brauchte so viel Konzentration um nicht in einem der zahlreichen Schlaglöcher zu landen.
Ich überlegte jemanden zu informieren, beschloss aber niemandem Sorgen zu bereiten, denn es war ja Winter und die Habu nicht sehr aktiv. Dafür kündigte sich tatsächlich gerade zu dem Zeitpunkt das Ende der Bremsklötze des Hinterrads an. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich hatte Ersatzklötze dabei, allerdings würde ich die erst bei Tageslicht und mit zusätzlichem Werkzeug montieren können. Die Fahrt war auf eine schöne Art unheimlich. Ich fuhr unglaublich langsam, sodass ich auf Unvorhergesehenes reagieren konnte und schaffte es mich irgendwie auf der Strasse zu halten. Einmal ergriff direkt vor mir ein Tier die Flucht, allerdings konnte ich nicht erkennen was es genau war. Der Wald lebte auf jeden Fall und ich war irgendwie ein Teil davon. Komplett durchnässt, langsam am frieren und dennoch, unglaublich glücklich.
Irgend erreichte ich die grosse Ringstrasse am Meer wieder. Obwohl ich es davor genossen hatte, war ich heil froh darüber. Mein Velo und ich waren beide unversehrt zurück in der Zivilisation angekommen. Ich freute mich unglaublich über die Strassenlaternen, die den Weg säumten und die Tunnels, die es hier wieder gab. Gewisse Annehmlichkeiten der Zivilisation können schon unglaublich toll sein. Das relativiert dann die Lichtverschmutzung schon wieder ein bisschen.