Die Frau an der Bushaltestelle

Ich verbrachte zwei Tage und zwei Nächte im Zug. Auf dem obersten Bett versuchte ich mich von den manchmal starrenden Blicken zu verbergen und meinen Frieden zu haben. Es waren lauter junge Männer und keine Familie um mich herum. Das ist mir immer etwas weniger angenehm. Aber was solls. Ich hörte ein ganzes Hörbuch durch und las, denn das Wetter war weniger zum aus dem Fenster schauen. Nur Varanasi (einer der heiligsten Städte der Hindus) wollte ich zumindest im vorbeifahren begutachten.

Blick aus dem Zug während der längsten der unzähligen Zugfahrten.

Nach dieser Fahrt war ich in Kalkutta. Einer ganz speziellen Stadt. Sie hat einen seltsamen Charme oder ich erwischte sie auf dem richtigen Fuss. In der Jugendherberge bekam ich ein Zimmer, obwohl eigentlich keines mehr frei war. Es war sauber und heimelig. Das Essen fantastisch. Danach ging es auf zum Victoria Memorial. Einem spannenden Gebäude, das allerdings vor allem durch die Ausstellung zur indischen Geschichte glänzte. Ich erfuhr viel und war ganz glücklich. Am nächsten Tag erhielt ich die besten Tipps, wohin ich sin Kalkutta sonst noch gehen sollte.

Gebäude in Kalkutta, die von der Kolonialen Vergangenheit berichten.

Ich machte mich also auf zum Birla Tempel, bei dem ich mir erstmals die Zähne aus biss, denn der Wächter wollte mich partout nicht passieren lassen. Keine Chance. Denn ich durfte meine Kamera nicht mitnehmen. Abgeben geht ebenfalls nicht. Dass all die Inder eine Handycamera haben schien ihn nicht zu interessieren. Ich bot ihm die Batterie meiner Kamera an. Nichts. Er schüttelte stur den Kopf. Es war als würde er allgemein nicht viel von Touristen halten, die einen Tempel besuchten.

Der Birla Tempel von der Seitenstrasse.

Da die CIMA Art Gallery allerdings gerade um die Ecke war, suchte ich erstmals diese auf, doch auch da kein Glück. Sie öffnet Montags erst zwei Stunden später. Ich telefonierte also erstmals eine Runde, schrieb ein bisschen und setzte mich dann bei der Bushaltestelle hin. Zwei Sitze von mir entfernt sass ein Mädchen. Zumindest dachte ich das beim ersten Anblick, doch die furchigen Hände und geschundenen Füsse erzählten etwas anderes. Eine längere Geschichte. Sie lächelte.

“Do yo need something?”

Ich war überrascht, dass sie Englisch sprach, denn sie schaute eher wie eine Obdachlose aus. Ich fragte nach dem Bus. Ein Mann auf seinem Roller hielt an und fragte, als würde mich die Frau belästigen, ob er mir helfen könnte. Gemeinsam fanden wir heraus welcher Bus mich in die Jugendherberge zurückbringen würde. Später.

"Mach ein Foto von mir, mach ein Foto von mir. Der kleine Junge (den ich beim Petflaschen sammeln kennen gelernt hatte) dahinter und ich, wir haben uns nur angeschaut. Manchmal versteht man sich ohne Worte.

Wir sassen einen Moment lang schweigend da. Dann begann die Frau zu sprechen. Wie ein Wasserfall, aber auch wie ein Orakel. Sie war intelligent, liebenswürdig und stolz. Sie wusste über die Ausstellung in der Galerie Bescheid und schien auch sonst die ganze Stadt zu kennen. Die Menschen schauen mich indessen seltsam an. Als würden sie sich fragen, warum ich mich mit dieser Bettlerin unterhielt. Aber sie war keine Bettlerin. Sie heisst Sumita und lebt seit einiger Zeit an dieser Bushaltestelle. Bewusst fragt sie nicht nach Geld und ich bewundere ihre Lebensfreude. Stück für Stück erfahre ich einen Teil ihrer Geschichte, aber nur Fetzen. Ich möchte nicht drängen. Ich höre einfach zu und beobachte fasziniert, wie sie aufgeregt zu lachen beginnt und mich anschaut, wenn sich eine ihrer Geschichten dem Ende zu neigt.

Im Garten vor dem Victoria Memorial. Eine Oase für frisch verliebte, indische Pärchen, die küssend unter den Bäumen verteilt sitzen.

Sie weist mich zeitig darauf hin, dass die Ausstellung von Jogen Chowdhury jetzt offen ist und ich schaue mich dort um. Sehr empfehlenswert. Da ist sogar ein Portrait von Jimy Hendrix dabei, das von ihm als Dank signiert wurde, aber es ist auch viel über das indische Leben zu erfahren. Danach kehre ich zurück an die Bushaltestelle. Wir unterhalten uns weiter. Sumita ist sehr gläubig. Aber sie missioniert nicht. Sie findet da wohl einfach ihren Halt. Familie hat sie keine mehr, aber einige Freunde hier an der Bushaltestelle und Essen erhält sie immer pünktlich bei der Strassenküche gegenüber. Ich verspreche am kommenden Tag wieder zu kommen.

Und das Victoria Memorial. Ein beeindruckendes Bauwerk, währe es zu einem anderen Zweck errichtet worden.

Gesagt getan. Sie isst gerade. Das Essen duftet herrlich. Sie erzäht, wie ihre Decke geklaut wurde aber auch, dass dies hier ein guter Platz ist, denn die Polizei ist in der Nähe und auch immer genug Taxifahrer. Hin und wieder bietet ihre ein Mann an in sein Auto zu steigen. Deutet sie an, doch sie will nichts davon wissen. Sie ist vierzig Jahre alt und ich kann es kaum glauben. Nur schweren Herzens verlasse ich meinen Sitz an der Bushaltestelle beim Birla Tempel. Wir umarmen uns und ich mache mich mit dem Zug auf nach Darjeeling. Sie verspricht mir einen Brief zu senden, wenn sich ihre Situation verbessert hat.

This entry was posted in Aussereurapäisch, Deutsch, India Bhutan Nepal 2014. Bookmark the permalink.

2 Responses to Die Frau an der Bushaltestelle

  1. Susanne says:

    Liebe Mariane, das ist einer der bewegendsten Reisemomente, über den ich seit langem gelesen habe, eine warme, tiefe Intensität kommt da rüber.
    DANKE! Deine Susanne

    • mariane says:

      Vielen Dank Susanne. Es war für mich auch eine der spannendsten und bewegendsten Begegnungen überhaupt und es freut mich, dass ich diese Gefühle entsprechend herüber bringen konnte. Ich habe Sumita dann nochmals besucht auf der Rückreise. Leider habe ich noch keinen Brief erhalten, aber vielleicht kommt irgendwann ein Lebenszeichen.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *