Stell dir vor es ist Olympiade und keiner geht hin*

Als ich 2019 drei Monate in Kyoto lebte, sagte ich, dass ich ganz froh bin vor den Olympischen Spielen in Tokyo in Japan gelebt zu haben, denn ich war mir ziemlich sicher, dass dadurch eine Gentrifizierung stattfinden könnte. In Kürze: Das ist nicht passiert. Ich war in Tokyo, es fanden Olympische Spiele statt und ausser, dass ich in der richtigen Zeitzone gelebt habe, um die Veranstaltungen zu verfolgen, habe ich davon nichts gemerkt.

Sogenanntes “shaved ice”. Wie ihr euch bestimmt vorstellen könnt war danach mein Magen leicht unterkühlt. Genau genommen ist das aber einfach von einem grossen Block abgeschabtes Eis, das mit einer Erdbeersauce bedeckt wurde. (Foto: Yoshiroh)

Stattdessen machte ich zusammen mit Fabian (dem zweiten JSPS Postdoc) einen Ausflug nach Shikinejima, Niijima und Oshima. Das sind drei Inseln, die noch zu Tokyo gehören. Ein kleines Paradies gleich vor der Haustür. Wir konnten mit der Fähre über Nacht anreisen.

Während Fabian nicht so viel geschlafen hat und davor Fuji bei Sonnenaufgang bestaunen durfte, habe ich davon so rein gar nichts mitbekommen.

Zelten war allerdings untersagt wegen Covid-19, denn der State of Emergency wurde in Tokyo verlängert. Natürlich kam auch ich da nicht um den Gedanken herum, dass dies nun an den Olympischen Spielen liegen könnte. Denn kaum war er endlich vorbei, begann er auch gleich wieder. Seis drum, wir fanden ein schönes Minshuku (民宿 – eine Pension) auf Shikinejima und genossen das Meer…

Ich in einer natürlichen heissen Quelle bei Vollmond. (Foto: Fabian)

… und die natürlichen heissen Quellen.

Eine zweite heisse Quelle. Das vermischen mit dem Meerwasser führt zu einer ertragbaren Temperatur.
Wasserpumpe.

Es waren zwei Ferientage. Der Tag des Meeres und der Gesundheits- und Sporttag. Wir liefen also einmal quer über die Insel, ich kämpfte mich mit einem Stock durch Spinnenweben, während mir Fabian dicht auf den Fersen war. Das ging für zwei Nächte gut, bis wir nach Oshima kamen. Auch hier galt das generelle Campingverbot und weil diese Ferientage waren, wo gefühlt halb Tokyo auf den Beinen ist, waren restlos alle Hotels auf der Insel ausgebucht.

Coole Raupe.

Und dies kann wahrscheinlich tatsächlich nur in Japan passieren, denn wir hatten auf der Touristeninformation nach einer Liste von Hotels gefragt und sie hat uns angeboten für uns anzurufen. Wir haben dankend angenommen und wurde danach Zeugen davon, wie eine unglaublich herzliche Frau mit immer einer Priese Humor alle Hotels der Insel anrief und jedes Mal kam am Ende heraus, dass schon alles ausgebucht ist. Ich hatte durchaus ein leicht schlechtes Gewissen, dass mal wieder jemand meine Spontanität ausbaden musste.

Für den Sonnenaufgang einmal quer über die Insel gerannt.

Wir überlegten sie zu unterbrechen, aber wenn wir das getan und gesagt hätten, dass wir schon eine Lösung finden, dann hätten wir die ganze zuvor geleistete Arbeit zu Nichte gemacht. Wir warteten also. Nach etwa vierzig Minuten macht sich ein Lachen auf ihrem Gesicht breit. Sie hatte etwas gefunden und wir wussten, was auch immer es war, wir würden zustimmen und das nehmen. Es sollte meine erste Nacht in einem Kapsel-Hotel (カプセルホテル) werden. Bis ich festgestellt hatte, dass ich schon zuvor in Kapsel-Hotels war, die sich Hostels genannt hatten. Und zwar sowohl in Japan, als auch in Israel.

Doch noch jemanden gefunden, der campiert. Einfach direkt am Hauptsteg in Oshima.

Seis drum, die Besitzerin hatte zurückgerufen weil jemand die Buchung annulliert hatte und sie war fantastisch. Sie hiess uns wärmstens willkommen, überhäufte uns mit Tipps was wir alles unternehmen sollten und brachte uns sogar zum nächsten Laden, damit wir unsere hungrigen Bäuche stopfen konnten. Am Abend forderte sie uns etwa fünf mal dazu auf die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele mit ihr zu schauen. Aber wir waren müde, hatten eine grosse Wanderung vor uns am nächsten Tag und lehnten ab.

Der letzte Ausbruch war 1986. Die schwarze Wüste oben zu erkennen.

Ein Gefühl sagte mir allerdings, dass ich doch nochmals runter gehen sollte. Ich nahm eine Sprachnachricht auf. Ein anderer Gast rauchte daneben. Er sprach mich nicht an. Erst als die Besitzerin raus kam und ihn aufforderte mit mir zu reden, tat er das auch. Es schien wirklich als wäre er bloss schüchtern gewesen. Als er dann allerdings mit mir zu flirten begann, stutzte sie ihn zu Recht, dass dies nun zu weit ginge. Natürlich non-verbal. Aber es war eindeutig, er liess es danach bleiben. Es begann ein langer, sehr lustiger Abend mit viel Whisky, aber ohne weitere Avancen. Ein Mariane’scher Klassiker halt.

Genau zu erkennen wo sich die Vegetation zurück gekämpft hat und wo noch nicht.

Die Spiele hatten begonnen, aber irgendwie sprach fast niemand darüber. Davor hatten sich einige meiner Freunde negativ dazu geäussert, die meisten jedoch gar nicht und nur sehr wenige freuten sich schon vorher. Wir erklommen bei glühender Hitze einen Vulkan und kehrten dann nach Tokyo zurück. Ausser den Flaggen Tokyo 2020 war aber nichts auszumachen. Ich hörte aus der Schweiz, dass es zu Protesten gekommen war, nicht in den Japanischen Medien. Es überraschte mich allerdings nicht, dass ein Freund aus dem Kumano an den Protesten beteiligt gewesen war. Die meisten protestierten wegen Covid, er allerdings weil die Olympiade eine dekadente Veranstaltung der Reichen ist.

Yokohama aus der Ferne. Da kommen Erinnerungen an meine Frachtschiffsreise auf.

Ich muss ehrlich gesagt sagen, dass ich da schon seiner Meinung bin. Aus diesem Grund waren diese Spiele gar nicht so schlecht. Nur die Athletinnen und Athleten flogen um die Welt, statt einem Haufen Publikum. Irgendwie war alles dadurch nicht so bombastisch. Und wie ich es mitbekommen habe, galten bezüglich Covid so strenge Regeln, dass eher das Verhalten der Tokyoer (wo ich ein bisschen herauslesen konnte – “warum sollten wir uns einschränken wenn ihr eine Olympiade durchführen könnt”) einen negativen Einfluss hatte. Aber am Ende ist das Spekulation. Tokyo ist riesig und ich habe nur ein paar punktuelle Eindrücke.

Der Zahn der Zeit.

Was aber wirklich faszinierend ist, dass Menschen, die bevor die Olympischen Spiele begonnen haben dagegen waren. Nachdem sie aber begonnen hatten akzeptierten es die meisten einfach. Warum gegen etwas ankämpfen, was man nicht ändern kann? Ich würde das als sehr typisch Japanisch bezeichnen. Wenn sie schon stattfinden, dann kann man sie auch geniessen. Schliesslich hatte jede steuerzahlende Person in Japan ca. 400 CHF dafür bezahlt. Man könnte auch sagen, zum Glück fanden diese verschobenen Spiele in so einem grossen Land statt.

Fabian vor einem weiteren Gebäude, das von der Natur zurückerobert wurde. Obwohl Shikinejima sehr schön ist, scheint es auch hier Abwanderung zu geben.

* angelehnt an Carl Sandburgs “Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin”

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